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»Vor 100 Jahren: Die Siegermächte besetzen Konstantinopel«
Die Landung der Alliierten am Bosporus festigte die Widerstandskraft der Türken und vergiftete zugleich das Verhältnis der neuen Republik zu Europa – bis heute. Die Türkei verabscheut das „Alte Europa“ und sieht ihre Zukunft bei der „Supermacht Asien.“
Ein Gastbeitrag von Rasim Marz /
Das heutige Istanbul ist das wirtschaftliche Aushängeschild der „neuen Türkei“. Vom weltgrößten Flughafen über den Bosporus-Tunnel bis hin zur Großen Oper – die Prestigeprojekte von Präsident Erdogan haben der türkischen Republik ein neues Gesicht verliehen. Zwischen Lira-Verfall und gestrandeten Flüchtlingen schwelgt die Weltstadt Istanbul, mit ihren jährlichen Tulpenfestivals, in spätosmanischer Romantik. Die Republik wähnt sich in ihrer eigenen „Tulpenzeit“, jener Blütephase des Osmanischen Reiches des beginnenden 18. Jahrhunderts, in der Geld und Macht alles überlagerte. Schon zur byzantinischen Zeit war Konstantinopel für seinen Reichtum beneidet und begehrt worden. Am Ende des Ersten Weltkrieges war davon nichts mehr übrig.
Doch bis dahin hatte der Traum von Konstantinopel seine Faszination nicht verloren. »Bedenken Sie, was Konstantinopel für den Osten ist. Es hat eine größere Bedeutung als London, Paris und Berlin zusammen genommen für den Westen. Bedenken Sie, wie es den Osten beherrscht hat.«, erklärte Winston Churchill dem einflussreichen Zeitungsmogul George Riddell im April 1915. »Bedenken Sie, was sein Fall bedeuten wird!« Nach vier blutigen Jahren endet im Oktober 1918 der Krieg im Orient und die Übermacht von Briten und Franzosen bringt die jungtürkische Regierung zu Fall. Das alte Osmanische Reich hat an der Seite Deutschlands verloren. Der Waffenstillstand, der alle Kampfhandlungen zum Schweigen bringt, wird schließlich auf dem britischen Kriegsschiff „HMS Agamemnon“ geschlossen. Wenige Tage nach dem Waffenstillstand fliehen die Führer der Jungtürken aus dem Land, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen und sich vor der Rache ihrer Opfer zu retten.
Der Kriegsheld der osmanischen Marine, Rauf Bey, empfing auf dem britischen Kriegsschiff die Forderungen der Alliierten: Abtretung aller arabischen Territorien, Öffnung der Dardanellen-Meerengen, Entwaffnung der Armee und die Übergabe der osmanischen Flotte, uneingeschränkte Kontrolle aller Häfen und Eisenbahnlinien sowie militärische Besetzung aller strategischen Punkte des Reiches und damit die Preisgabe der Hauptstadt Konstantinopel. „Das ist kein Waffenstillstand, sondern eine bedingungslose Kapitulation.“, äußerte sich Sultan Mehmed VI. entsetzt.
Die Alliierten verlangen nach einer harten Bestrafung, aber auf den Straßen von Konstantinopel waren die Folgen des Krieges deutlich spürbar. Eine von Seuchen und Hunger dezimierte Bevölkerung versuchte zu überleben. Lebensmittel und Wasser waren kaum ausreichend. Frauen brachten ihren Goldschmuck für etwas Brot dar und hochdekorierte Offiziere verkauften Zitronen. Für den bevorstehenden harten Winter 1918/19 stand keine Kohle zum Heizen zur Verfügung, endlose Schlangen bildeten sich vor den Suppenküchen oder den Auffangzentren der Amerikaner. Tausende Flüchtlinge mussten unter dem Sternenhimmel campieren, darunter die 185.000 Russen der Weißen Armee, die vor der Bolschewiki nach Konstantinopel flüchteten. Die von Großbritannien, Frankreich, Italien und den USA eingesetzten Hochkommissare mussten nicht nur die Verwaltung und öffentliche Ordnung der Hauptstadt sicherstellen, sondern auch die drohende humanitäre Katastrophe abwenden.
Es waren zuerst französische Truppen die Konstantinopel besetzten, gefolgt von den Briten. Das alliierte Flottengeschwader pflügte sich durch das Marmarameer, um am Goldenen Horn ankern zu können. »Ich kann nicht aus dem Fenster schauen! Ich hasse es, sie zu sehen!«, beklagte sich der Sultan beim Anblick der europäischen Kriegsschiffe. Die Siegesparade des französischen Generals Franchet d’Esperey auf der Grand Rue de Pera im Februar 1919 bildete für die Osmanen die größte Demütigung: auf einem von zwei Soldaten geführten Pferd ritt der französische Militär im Stile eines römischen Herrschers durch die Prachtstraße Konstantinopels. Die Anspielung auf den Siegeszug von Sultan Mehmed II. im Jahre 1453 bei der Eroberung der Hauptstadt des Oströmischen Reiches – festgehalten vom italienischen Maler Fausto Zonaro – war unverkennbar. Nun waren es Armenier, Griechen, Juden und Levantiner, die dem französischen General zujubelten. Armenier und Griechen empfingen die europäischen Truppen als Befreier, waren sie doch Opfer jungtürkischer Deportationspolitik geworden.
Für sie war das antiquierte Osmanische Reich nur noch ein Relikt einer längst vergangenen Epoche. Bereits im Vorfeld des Weltkrieges wüteten armenische und griechische Milizen in Anatolien, bestärkt durch russische und französische Autonomie-Versprechungen. Nach dem Krieg waren sie erfüllt von den Versprechungen des US-Präsidenten Woodrow Wilson, der die „Selbstbestimmung der Völker“ in seinem 14-Punkte Programm postulierte. Die Straßen von Pera versanken in einem blau-weißen Fahnenmeer des griechischen Nationalismus. Speziell die vom griechischen Premierminister Eleftherios Venizelos forcierte „große Idee“ („megali idea“), der Zusammenschluss aller Griechen von Konstantinopel über Kleinasien mit dem Königreich Griechenland sollte in einer menschlichen Katastrophe enden.
Die Botschaft an die Türken war eindeutig: Die kaiserliche Metropole, das „zweite Rom“, ist wieder endgültig im Besitz des christlichen Europa; jede Form der Souveränität der Osmanen somit erloschen. Für die Türken war dies eine tiefe Ehrverletzung, die bis heute nicht aus dem nationalen Gedächtnis getilgt wurde. Als im Mai 1919 griechische Truppen in Smyrna (heutiges Izmir) landen schwinden die Hoffnungen auf Frieden. Gleichzeitig erreicht General Mustafa Kemal Pascha, der spätere Atatürk, mit wenigen osmanischen Offizieren den Schwarzmeerhafen Samsun. Offiziell soll er in aufständischen Gebieten für Ruhe und Ordnung sorgen, doch der Sultan beauftragt ihn mit dem Aufbau des Widerstandes.
Die Warnungen der Hochkommissare vor einem erstarkenden türkischen Widerstand im Herzen Anatoliens werden indes in Paris von den großen Männern der Politik ignoriert. Sie gehen davon aus, dass die Kontrolle über die osmanische Hauptstadt eine Garantie für sie darstelle. Um dem Nachdruck zu verleihen, werden im März 1920 strategische Punkte in Konstantinopel durch britische Soldaten besetzt, das zuvor neu konstituierte Parlament, wo Mustafa Kemals Anhänger die stärkste Fraktion bildeten, wird durch die Briten aufgelöst; die Parlamentarier nach Malta verschleppt. Der britische Außenminister Lord Curzon sprach sich in jenen Monaten für ein Ende der osmanischen Herrschaft aus, »um ein für allemal ein Problem zu regeln, das stärker als jeder andere Faktor das Leben in Europa für fast 500 Jahre lang beeinträchtigt hat.« Als die Alliierten im Juni 1920 mit dem Vertrag von Sèvres, dem orientalischen Pendant zum Versailler Vertrag, die Teilung und somit das Ende des Osmanischen Reiches beschließen, wird Mustafa Kemal Pascha sie mithilfe der Bajonetten seiner Soldaten zurück an den Verhandlungstisch zwingen. »Für uns gibt es keinen Vertrag von Sèvres!«, unterstrich der osmanische General, der vor 95 Jahren die türkische Republik ausrief. Doch bis dahin sollten noch viele Schlachten geschlagen werden. Wer für den Widerstand Propaganda machte, Waffen sammeln oder Personen rekrutieren ließ, musste mit drakonischen Strafen bis hin zum Tod rechnen. Standrechtliche Erschießungen von „Kollaborateuren“ durch britische Kommandos häuften sich. Binnen weniger Monate wurden in den Vorstädten hunderte Männer hingerichtet. Je mehr Erfolge Mustafa Kemal Pascha verzeichnen konnte, desto größer wurde die Panik bei den Briten.
Das kosmopolitische Konstantinopel blieb von den Einflüssen der Besatzungstruppen und der Flüchtlinge, vorrangig der Russen, nicht unberührt. »Die Reichen, mit ihrem im Krieg leicht verdienten Geld, speisten, tranken, genossen das Leben in vollen Zügen, kauften Immobilien und prassten hemmungslos. Die lächerliche Aufmachung und Bekleidung der Frauen mit ihren geschminkten Gesichtern, halb entblößten Busen und ihr schamloses Betragen erregte meine besondere Aufmerksamkeit. Die türkische Hauptstadt war zu einem Babylon geworden.«, echauffierte sich der armenische Bischof Balakian. Mit den Russen kehrte eine Schwimmkultur am Marmarameer ein, die die Türken elektrisierte. Die Strände von Florya waren nun mehr im Sommer Schauplatz flanierender Paare und Familien aus den höchsten Kreisen Konstantinopels. »Das Leben ging ausgelassen weiter, besonders abends«, erinnerte sich der britische Hochkommissar General Harington, »Es gab etwas für jeden: Jagen, Polo, Schießen, Fischen, Jachtausflüge, Golf, Cricket, Hockey, Tennis, Squash und so weiter, einen guten Club und gute Cafés.« Militärparaden und die Feier anlässlich des Geburtstages von König George V. wurden ebenfalls ausgiebig in der Hauptstadt präsentiert. Für die Minoritäten bildeten die patrouillierenden alliierten Soldaten eine Sicherheitsgarantie, die ihnen zuweilen auch das Selbstbewusstsein verlieh, um Türken zu schikanieren. So machten sich Griechen über den Muezzin lustig, wenn er zum Gebet rief oder riefen streunende Hunde mit dem Namen des Propheten. Wenn Brände ganze Stadtviertel vernichteten waren bereits griechische Makler zur Stelle, um die Not der Hinterbliebenen zu ihren Gunsten zu missbrauchen, noch bevor das Feuer erlosch. Unterdessen verließen viele Türken die Hauptstadt, um sich dem nationalen Widerstand von Mustafa Kemal Pascha anzuschließen.
Die türkischen Truppen gewannen immer mehr Boden in Anatolien und besiegten schließlich ihren größten militärischen Gegner Griechenland im August 1922 bei Dumlupinar. Die Alliierten mussten wieder in Waffenstillstandsverhandlungen treten, denn nun wurde die Hauptstadt durch türkische Truppen umstellt. Nur die alliierte Flotte hinderte General Mustafa Kemal Pascha daran Konstantinopel zurückzuerobern. »Die Ausländer sind nervös bei den Gedanken an das Schicksal von Smyrna und haben auf Wochen hinaus abgehende Züge ausgebucht.«, schrieb Ernest Hemingway in jenen Tagen. Das alte Smyrna ging zuvor in Flammen auf. Die Briten waren bereit wieder Friedensverhandlungen aufzunehmen und beabsichtigten sowohl die Regierung des Sultans als auch die nationale Regierung Mustafa Kemals einzuladen, doch Kemal kam ihnen zuvor und erklärte das Sultanat für abgeschafft. Nach zähen Verhandlungen in Lausanne wurde im Juli 1923 der Frieden ratifiziert. General Harington und die alliierten Truppen, davon 15.000 britische Soldaten, verließen am 2. Oktober 1923 endgültig Konstantinopel. Vier Tage danach wehte der türkische Halbmond wieder über die Weltmetropole. Wochen später sollten die Muezzine von den Minaretten der kaiserlichen Hauptstadt die Ausrufung der Republik durch Atatürk verkünden. Nur noch ein Union Jack in einer angelikanischen Kirche im Stadtteil Galata erinnert heute noch an die Besatzungszeit jener Tage. Ein Abschiedsgeschenk des letzten britischen Hochkommissars General Tim Harington.
Rasim Marz ist Historiker und Publizist für die Geschichte des Osmanischen Reiches.
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